Cevdet Erek

Cevdet Erek, Bergama Stereo, photo: Mathias Voelzke

Bergama Stereo
2019

Architektonische Konstruktion mit 34-Kanal-Sound & Performanceprogramm
Lautsprecher, Verstärker, Computer, Audiointerface, Holz, Metall
4,50 m x 14 m x 9,25 m

In der Architekturinstallation mit Sound Bergama Stereobezieht sich der in Istanbul lebende Künstler und Musiker Cevdet Erek auf die Gestalt, die historische Funktion und die forwährende Rezeptionsgeschichte des in Berlin befindlichen Pergamonaltars und kreiert eine Neuinterpretation dieses bedeutenden hellenistischen Bauwerks aus dem 2. vorchristlichen Jahrhundert. Die erhaltenen Fragmente des Altars wurden Ende des 19. Jahrhunderts vom ursprünglichen Standort in der heutigen Westtürkei nach Berlin transportiert.

Die große Bedeutung, die der hellenistischen Altaranlage in dem gerade gegründeten Deutschen Kaiserreich seit den 1880er Jahren zukam, ist eng verbunden mit der aufblühenden Entwicklung der Antikenrezeption in Wissenschaft und Kultur. Darüber hinaus spielte sie eine wichtige Rolle im kulturellen Wettstreit des Kaiserreichs mit anderen europäischen Großmächten. In Berlin wurde dem Altar 1901 ein eigenes Museum eröffnet, das bis heute zu den bestbesuchten Museen der Stadt gehört. Das Pergamonmuseum wird derzeit renoviert, sodass der Altar über mehrere Jahre nicht öffentlich zugänglich ist.

Bergama Stereoist eine ortsspezifische Arbeit. Sie ist konzipiert für zwei Schauplätze, die auf unterschiedliche Weise mit der Geschichte des Pergamonaltars und dem historischen Kontext seiner Rezeption und Rekonstruktion verbunden sind. Nachdem das Werk im Rahmen der Ruhrtriennale 2019 in der beeindruckenden Industriearchitektur der Turbinenhalle auf dem Gelände der 1902 errichteten Jahrhunderthalle in Bochum gezeigt wurde, ist die Installation nun in der ebenso beeindruckenden Historischen Halle des Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart – Berlin zu erleben.

Zum Titel des Werks: Bergama ist der türkische Name für das antike Pergamon sowie der heutigen Stadt und des Bezirks in der Provinz Izmir. Das Wort »stereos« bedeutete im Altgriechischen ursprünglich »fest«. Hier steht es unter anderem für die Methode der multi-direktionalen und perspektivischen Tonwiedergabe – analog zum natürlichen Hören. Stereoklang entsteht im Audioplayback und bei Verstärkersystemen von Liveperformances üblicherweise durch die symmetrische Anordnung von zwei Einzellautsprechern oder zwei Lautsprechergruppen. In Bergama Stereowird dieser audiovisuelle Aspekt mit der symmetrischen Architektur des Altars und seiner zwei Flügel verknüpft.

Cevdet Erek hat Bergama Stereoin seinen Dimensionen für die beiden, jeweils charakteristischen historischen Hallen in Bochum und Berlin konzipiert. Die Proportionen des Pergamonaltars bleiben im verkleinerten Maßstab von knapp 1:2 erhalten, die markante schwarze Architektur befindet sich jeweils an der Kopfseite der Hallen. Der berühmte Gigantenfries des Altars, auch Gigantomachie-Fries genannt, wird in einer Multi-Kanal-Komposition interpretiert, die den Raum beschallt. Der Sound übernimmt hier die zentrale Rolle zur Schaffung einer tönenden Architektur, die die visuellen Elemente des originalen Altars ersetzt und in ein multi-dimensionales Narrativ übersetzt, das sich nicht nur auf die Geschichte und Vergangenheit sondern auch auf die Gegenwart bezieht. Der Skulpturenfries wird ersetzt durch einen monumentalen Lautsprecherfries mit einer Komposition, die sich aus verschieden Sounds und Klangquellen speist und über 34 separate Lautsprecherkanäle in den Raum projiziert wird. Analog zum nur fragmentarisch erhaltenen originalen Pergamonfries und seinen auf der Grundlage der Architekturfunde rekonstruierten Stützelementen wechseln sich die Lautsprecher mit leeren Lautsprechergehäusen ab.

Der neue akustische Fries interpretiert und transformiert die Darstellungen im Gigantenfries auf vielfältige Weise: Der Kampf der Olympischen Götter mit den sich gegen ihre Herrschaft auflehnenden Giganten des Untergrunds wird durch die vielkanaligen, verräumlichten Sounds auf verschiedene heutige Kämpfe übertragbar und so für das Publikum in einem abstrakten Modus neu erfahrbar gemacht. Die ästhetische Bezugnahme auf die elektronische Musik- und Clubkultur der letzten Jahrzehnte in Berlin spielt dabei ebenso eine Rolle wie Klänge der traditionelle Basstrommel Davul und Tanzrhythmen der Region um Bergama.

Cevdet Erek verwendet in seinen Arbeiten zumeist sehr reduzierte Soundelemente. Sie bestehen aus perkussiven Mustern, akustisch oder elektronisch generiert, aber auch aus Wort- und Satzfragmenten in verschiedenen Sprachen oder onomatopoetischen Elementen und Geräuschen. Diese Soundpatterns werden vom Künstler vor Ort in eine vielkanalige Komposition übertragen, die den Raum über eine Vielzahl von Lautsprechern mit einem rhythmischen Klang füllt. Die Bewegungen und Höraktivitäten der Besucherinnen und Besucher bestimmen die Wahrnehmung der Komposition. An jedem Ort des Raums ist die Komposition anders zu hören: Nähert man sich dem Lautsprecherfries, sind dies einzelne Sounds, die sich, je weiter man sich von ihnen entfernt, überlagern und den Rhythmus in den Raum tragen. Diese Rhythmen, Pulse und Schwebungen könnten auch zu tänzerischen Bewegungen verleiten – das akustische Erleben beschränkt sich in diesem Falle nicht auf das Hören.Die Komposition wird jeweils während des Aufbaus der Installation vor Ort bestimmt, sie verändert sich dabei, wird ergänzt und variiert.

Wie schon in Bochum, ist auch in Berlin ein im Ausstellungsraum stattfindendes Konzert- und Performanceprogramm integraler Bestandteil der Präsentation. Es greift Themen und strukturale Aspekte der Architektur auf. Musiker und Musikerinnen sind eingeladen, sich mit den charakteristischen Merkmalen der Installation wie Symmetrie, Balance, Gegensatz und den inhaltlichen Aspekten des Werks wie Geschichte, Ritual, Macht, Kampf, Streit, Vertreibung und Migration auseinanderzusetzen.

Die Ausstellung in Berlin findet zum 20-jährigen Jubiläum von „Musikwerke Bildender Künstler“ statt. Die Veranstaltungsreihe ist ein Gemeinschaftsprojekt von Freunde Guter Musik Berlin e.V. und der Nationalgalerie – Staatliche Museen zu Berlin. Seit 1999 wurden bereits musikalische Werke und Installationen von Hanne Darboven, Yves Klein, Hermann Nitsch, Rodney Graham, Stephen Prina, Lawrence Weiner / Peter Gordon, Käthe Kruse, Carsten Nicolai, Janet Cardiff & George Bures Miller, Cory Arcangel, Egill Sæbjörnsson & Marcia Moraes, Ryoji Ikeda, Susan Philipsz, Saâdane Afif, Christian Marclay, Ari Benjamin Meyers und Jorinde Voigt im Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart – Berlin und in der Neuen Nationalgalerie präsentiert.

Cevdet Erek, geb. 1974, lebt und arbeitet in Istanbul. Er studierte 1992–1999 Architektur an der Mimar Sinan University of Fine Arts in Istanbul sowie 2000–2003 Sound Engineering und Design am Center for Advanced Studies in Music an der Technischen Universität Istanbul. 2005–2006 war er Artist in Residence an der Rijksakademie in Amsterdam. 2011 promovierte Erek in Musik am Center for Advanced Studies in Music an der Technischen Universität in Istanbul. 2012 erhielt er den Nam June Paik Award für Medienkunst der Kunststiftung NRW. Derzeit lehrt er am ITU Turkish Music State Conservatory und ITU Center for Advanced Studies in Music (MIAM).

Cevdet Erek hat seine Sound- und Architekturinstallationen international in zahlreichen Einzel- und Gruppenausstellungen präsentiert: 2017 vertrat er die Türkei mit seiner Arbeit ÇIN auf der Venedig Biennale. 2012 war er mit der Installation Raum der Rhythmen auf der dOCUMENTA (13) in Kassel vertreten, eine Arbeit, die er jeweils ortsspezifsch, in veränderter Form auch 2014 im MAXXI, Rom, auf der Istanbul Biennale 2015 und der Sydney Biennale 2016 realisierte. Eine weitere Serie von Arbeiten unter dem Titel Sound Ornamentation wurde u.a. auf der Sharjah und der Marrakesch Biennale 2013 und 2014 gezeigt. Mit größeren Einzelausstellungen war er u.a. im Chicago Art Institute (chiçiçiçiçichiciçi, 2019), im M HKA, Antwerpen (AAAAA, 2018), im MUAC, Mexico City (A Long Distance Relation, 2017), bei Spike Island, Bristol (Alt Üst, 2014) und in der Kunsthalle Basel (Week, 2012) vertreten.

Zu seinen Publikationen gehören: SSS – Shore Scene Soundtrack (Istanbul 2008, Sternberg Press, Berlin 2017), Room of Rhythms 1 (Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln 2012), Less Empty Maybe (Revolver Publishing, Berlin 2015) und der Katalog ÇIN zu seinem Beitrag auf der Venedig Biennale (Istanbul Foundation for Culture and Arts, 2018).

Weitere Sound/Musik-Arbeiten sind seine Klang- und Musikregie für Kaan Müjdecis Spielfilm  Sivas (Spezialpreis der Jury bei den 71. Internationalen Filmfestspielen von Venedig 2014) und seine Musik- und Klang-Codesign für Emin Alpers Spielfilm Frenzy (Spezialpreis der Jury bei den 72. Internationalen Filmfestspielen von Venedig 2015).

Cevdet Erek ist Schlagzeuger in der von ihm mitbegründeten Avantgarde-Rockband Nekropsi, mit der er eine Reihe von CDs veröffentlicht hat. Seit einiger Zeit tritt er regelmäßig als Musiker mit der traditionellen Basstrommel Davul auf. 2017 erschien bei Subtext Recordings seine erste Davul LP.

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