Streaming ist keine Antwort auf die Auswirkungen der Corona-Krise auf Kunst und Musik, oder besser: keine angemessene Antwort. Streaming potenziert das Deprimierende dieser Krise, die Trennung, die Abgeschnittenheit. Da sitzen also Musikerinnen und Musiker in ihren Wohnzimmern und Studios, manchmal per Videoschalte synchronisiert, meistens ziemlich allein. Sie spielen eine Musik, die auf die Bühne gehört, die das Publikum braucht, die ersten Streamings waren noch Ersatzformate für gerade abgesagte Konzerte oder Aufführungen. Für einen Moment war das charmant. Aber wie frustrierend ist es, etwas vorenthalten zu bekommen, um es dann als Surrogat, als Kopie oder virtuell gespiegelt bestaunen zu sollen!

Foto: ON – Neue Musik Köln

Musik wird in der Corona-Krise radikal entkörperlicht, das heißt sie wird vor allem von den Musikerinnen und Musikern getrennt. Denn natürlich haben wir Musik in den letzten Wochen und Monaten nach wie vor körperlich gehört, beim Wohnungsputz oder beim Joggen. Aber das ist schon der Triumph der Playlists, der Streaminganbieter, und trägt noch mal dazu bei, dass Musik als autonomes Hörerlebnis zum Bestandteil der akustischen Alltagsauskleidung herabgewürdigt wird. Das könnte ein dauerhafter [Wahrnehmungs-]Schaden der Krise sein.

Dabei gäbe es die Möglichkeit, diese Entkörperlichung, also die Verhinderung des realen Live-Erlebnisses, offensiv zu nutzen. Inspiration könnte man bei einem Großmeister der Entkörperlichung finden: bei Glenn Gould. Der erratische Pianist zog sich nicht nur 1964 von den Konzertbühnen zurück, er entzog auch seinen Einspielungen jegliche Authentizität. Zunächst ästhetisch, weil er insbesondere die Klaviersonaten von Beethoven und Mozart durchgehend gegen den Strich bürstete, aber vor allem technologisch: Seine Einspielungen sind nie aus einem Guss, sondern aus unzähligen Takes zusammengesetzt.

Foto: ON – Neue Musik Köln

Dem Diktum einer Genie-Ästhetik, die Aufführung müsse aus einem souveränen Entwurf eines schier übermenschlichen Künstlers folgen, widersprach er: Die Musik muss so präsentiert werden, dass wir sie hörend nachkomponieren können, wir die Möglichkeit des Mit-Denkens haben. In einer Reihe von – so würde man heute sagen – Tutorials für das kanadische Fernsehen in den 70er Jahren, verwirklichte er dieses didaktische Ideal. Gould führte durch die Musikgeschichte des frühen 20. Jahrhunderts und erklärte ihre Brüche, Abwege und Revolutionen, knapp, präzise, sich nie verzettelnd, den Kompositionen ihr Geheimnis zugestehend, aber sie doch erklärend.

Was das mit unserer Zeit zu tun hat? Was heute die Musikkulturen jenseits der Playlists und Youtube-Videos prägt, ist ein unruhiges Nebeneinander von Retrokultur und Hybridmusiken. Immer noch werden unbekannte und bekannte Musiker und Komponistinnen ausgegraben und uns als Pioniere – ja, von was eigentlich genau? – angepriesen, und andererseits mischen sich die Stile so wild wie auch vorhersehbar. Grime und Free Jazz, Postpunk und Tape-Collagen, Folk und serielle Musik: Alle Verschmelzungen scheinen, oder schienen, möglich. Aber wie ist es gekommen? Wieso mischen sich bestimmte Musiken und andere nicht? Was bleibt bei all diesen Wieder- und Neuentdeckungen unverdaut? Das könnte man jetzt erklären, auseinanderlegen, historisch rekonstruieren, um unsere Gegenwart musikalisch besser zu verstehen. Vergesst die gestreamten Konzerte und erzählt die Musik – erzählt von ihr und erzählt mit ihr. Irgendwann kommt das Körperliche schon wieder zurück, oder sagen wir: es muss zurückkommen, bis dahin schulen wir unsere Ohren. Sie werden dann auch widerständiger gegen Playlists. Vielleicht sollte das das Stichwort für die nächste Zeit werden: Rekonstruktion.

Die lässt sich übertragen in unsere urbanen und sozialen Räume, als augmented reality, als Klangspaziergang etwa durch Köln zu seinen bekannten und unbekannten Orten der Avantgarde und des Undergrounds; das hat es in Ansätzen schon gegeben, vor zwei Jahren als Weg zu den Orten Kölner Popkultur oder auch im Rahmen der Acht-Brücken-Festivals. An bestimmten Orten hört man bestimmte Musik, die mit diesen historisch assoziiert ist. Man müsste es freilich antinaturalistisch begreifen, nicht als Verdoppelung und auch nicht als Ergänzung eines Festivalprogramms, folglich nicht in Abhängigkeit von einer Musik[szene], die ihr Versprechen auf Körperlichkeit jederzeit einlösen kann [denn das kann sie ja jetzt und in den nächsten Monaten nicht oder nur kalt eingeschränkt]. Sondern als Erkenntnismedium. Der Sound des Belgischen Viertels könnte durchaus von Mauricio Kagel stammen, denn der hatte einst zwischen Maastrichter und Genter Straße sein Instrumenten- und Bühnenbildlager. Wie würden wir, mit seiner Musik, oder mit Musik in seinem Geist, das Belgische Viertel heute erfahren?

Foto: ON – Neue Musik Köln

Die Leerstelle, dass wir Konzerte, DJ-Performances oder Orchester-Aufführungen nicht in gewohnter Weise erleben können, bleibt eine Leerstelle. Unser Gespür für Musik und ihre räumliche und soziale Einbettung, ihren Bezug auf alltägliche soziale Praktiken geht dann nicht verloren, wenn wir diese Leerstelle nicht vergessen machen wollen, sondern uns besinnen, ein altmodisches Wort für eine altmodische Haltung: Es gibt viel aufzuarbeiten – und das heißt: nachzuhören, neu zu hören. Und dann merken wir wieder, auch Denken ist eine körperliche Tätigkeit.

Felix Klopotek

Über den Autor: Felix Klopotek ist Musikredakteur der Stadtrevue und schreibt in zahlreichen Zeitschriften zu gesellschaftlichen und kulturellen Themen. In seinem früheren Leben hat er Konzerte veranstaltet und CDs mit Improvisierter und Neuer Musik produziert und verlegt.