Die lange Wertschöpfungskette der Musik in den Blick nehmen

Hans Jessen im Gespräch mit Christian Höppner

Welche weiteren Auswirkungen bringt die Corona-Pandemie im Musikszene mit sich? Wie geht es jetzt weiter mit Musikveranstaltungen? Welche politischen Forderungen gilt es zu verdeutlichen? Hans Jessen spricht über dies und mehr mit dem Generalsekretär des Deutschen Musikrates Christian Höppner.

 

Hans Jessen: Herr Höppner, wenn man die Mitglieder all der Vereine zusammenzählt, deren Dachorganisation der Deutsche Musikrat letztlich ist, kommt man auf die gewaltige Zahl von 14 Millionen Menschen, die so oder so der Musik verbunden sind. Welche Bandbreite ist das, nicht alle werden Corona-Folgen gleichermaßen erleben, gibt es eine „Betroffenheitshierarchie“? 

Christian Höppner: Eine „Betroffenheitshierarchie“ trifft es schon: Je weniger sozial abgesichert, desto heftiger betroffen. Das trifft auf die Soloselbständigen zu, aber auch die freien Ensembles. Das gilt gleichfalls die Amateurmusik, wo auch Übungsleiter in ihrer Arbeit betroffen sind. Die Bandbreite der Mitglieder im Deutschen Musikrat reicht von der professionellen Musikszene und dem Amateurmusikleben, den Landesmusikräten, den Dachverbänden der Musikwirtschaft sowie den einzelnen Genres bis hin zu den Gewerkschaften und der ARD. Schon vor Corona standen viele Kreativschaffende mit ihrer sozialen Absicherung auf wackeligen Füßen, heute sind sie mit am stärksten von den Auswirkungen der Corona-Maßnahmen betroffen. Corona hat das Fenster noch mal geöffnet für den Blick auf diese soziale Schieflage, nicht nur im Musikbereich. Diese war schon vorher da, aber Corona ist zum Brandbeschleuniger geworden, so dass sich manche inzwischen die existenzielle Frage stellen: „Bin ich in meinem Beruf noch richtig?“

 

Der Deutsche Musikrat hat als erste größere spartenspezifische Kulturorganisation schon vor einem Jahr, im März 2020, Alarm geschlagen, auf die Auswirkungen der Pandemie für die Musikszene hingewiesen und finanzielle Unterstützung aus öffentlichen Haushalten gefordert. Wie sehen Sie die Lage heute, ein Jahr später? Inwieweit sind die Forderungen erfüllt – oder hat sich die Situation noch verschärft? 

Es ist ein unglaubliches Bündel von ausdifferenzierten Hilfsprogrammen entstanden. Wenn ich allein an die 60 Teilprogramme von NEUSTART KULTUR denke: Das ist insgesamt ein erfolgreich aufgelegtes Programm, wenngleich noch ergänzungsbedürftig in Einzelbereichen. Der Kulturstaatsministerin ist es gelungen, dafür eine weitere Milliarde aus dem Bundeshaushalt zu bekommen, das ist beileibe keine Selbstverständlichkeit.

Aber eine Forderung, die wir vor einem Jahr aufstellten – das befristete Grundeinkommen als eine Art fiktiver Unternehmerlohn im Sinne rascher und unbürokratischer Hilfe – , die erweist sich in der politischen Debatte auch heute noch als eine Art „emotionaler Brandbeschleuniger“. Trotzdem hat diese Forderung noch einmal den Fokus auf die sozialen Nöte gerichtet, und in abgewandelter Form wurde auch danach gehandelt – die pauschalierten Überbrückungshilfen einiger Länder gingen in diese Richtung. Einzelne Länder wie Bayern und Baden-Württemberg haben entsprechende Hilfen aufgelegt, es ist auch in den Forderungskatalog der Länderwirtschaftsminister eingeflossen, was ein guter Treiber für diese Debatte war. Politischer Höhepunkt war die einstimmige Forderung des Bundesrats im Juni 2020. Mit den pauschalierten Betriebskostenzuschüssen der Neustarthilfe für Soloselbständige im Rahmen der Überbrückungshilfe III wurde nun endlich von Bundesseite ein Schritt in die richtige Richtung gemacht. Die Beträge sind allerdings viel zu gering. Den Höchstsatz von 7.500 Euro für sechs Monate werden angesichts der vorausgesetzten Umsatzgrößen aus dem Jahr 2019 vermutlich nur wenige freiberufliche Musikerinnen und Musiker erhalten. Da erst seit Mitte Februar diese Hilfen beantragt werden können, ist es allerdings verfrüht, jetzt schon eine gründliche Bewertung vorzunehmen. Die Forderung nach dem fiktiven Unternehmerlohn bleibt aus zwei Gründen brandaktuell: Zum einen wird sich die Coronasituation vermutlich noch länger hinziehen, auch wenn wir auf ein baldiges Ende hoffen; zum anderen wird es mit Abflauen des Infektionsgeschehens nur schrittweise Öffnungen geben. Überdies brauchen die Akteure der Kulturszene Zeit, um wieder hochfahren zu können. Das Publikum wird wegen der Corona-Ängste auch nicht von heute auf morgen wieder zu den Kulturorten pilgern. Wenn wir nicht bald das Signal eines schrittweisen Plans für die Öffnung setzen, müssen wir in Anbetracht der besonders prekären Situation der Soloselbständigen noch mal neu über pauschalierte Hilfen für einen längeren Zeitraum nachdenken.

 

Im Sommer 2020 waren Sie noch optimistisch und gingen von einer Wiederaufnahme von Musikveranstaltungen nach der Sommerpause aus. Es kam anders – wie hat die zweite Welle und das faktische Lockdown-Jo-Jo seitdem die Musikszene und -branche betroffen?

Zum einen sind es existenzielle Sorgen, die nicht nur einzelne Personen betreffen, sondern die Musikwirtschaft als solche. An der dramatischen Lage der Musikverlage wird zum Beispiel die lange Wertschöpfungskette in der Musikwirtschaft deutlich. Keine Aufführungen bedeuteten keine Investitionen in Noten und Instrumente, keine Einnahmen aus Kompositionsaufträgen, Aufführungen, Verwertungsrechten. Die Musikverlage sind Teil unserer kulturellen DNA, die mit ihrer Arbeit neben den wirtschaftlichen Aspekten einen erheblichen Beitrag zu der kulturellen Vielfalt in unserem Land beitragen. Der politische Wille, diese Zusammenbrüche zu verhindern, ist da – aber das ganze Überbrücken ist immer auf den nächsten Moment gerichtet. Im Grunde ist jetzt der Zeitpunkt gekommen, wo wir überlegen müssen: Wie richten wir uns auf ein Leben mit Corona bzw. vergleichbarer Herausforderungen, auch wenn sich das keiner wünscht, ein? Das sind dann sehr grundsätzliche Fragen: Welche kulturelle Infrastruktur wollen wir? Welche Art kultureller Vielfalt wollen wir? Was priorisieren wir? – Letztendlich auch in politischen Entscheidungen. An solchen Diskussionen mangelt es derzeit.

Christian Höppner & Hans Jessen
Christian Höppner ist Generalsekretär des Deutschen Musikrates und Kulturratspräsident a.D. Hans Jessen ist freier Journalist und ehemaliger ARD-Hauptstadtkorrespondent.
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