Ob Sprache oder Instrument: Neue Hobbys gegen den Corona-Blues

Musikunterricht per Software oder Videokonferenz – die Kontaktnot während Corona hat die Menschen erfinderisch gemacht.

Musikunterricht per Software oder Videokonferenz – die Kontaktnot während Corona hat die Menschen erfinderisch gemacht.

Ein Jahr schon strukturiert Corona unseren Alltag radikal um. Statt in Clubs zu feiern, spazieren wir auf Abstand. Arbeit und Leben trennt nur noch eine Zimmertür und manchmal nicht mal das. Dazu existenzielle Sorgen: Reicht das Kurzarbeitergeld für die Miete? Welche Freundschaften überleben eine monatelange Distanz? Und was ist, wenn Oma krank wird? Die Belastung ist groß. Umso erstaunlicher ist es, dass das Interesse, Neues zu lernen, offenbar gestiegen ist.

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Steigende Zahlen bei Sprache, Coding und Musik

30 Millionen Menschen weltweit meldeten sich seit März 2020 bei der beliebten Sprachlern-App Duolingo an. Das ist laut dem Unternehmen ein Zuwachs von fast 70 Prozent im Vergleich zu 2019.

Auch Coding hat in der Pandemie an Beliebtheit gewonnen: „Wir konnten ab September 2019 einen starken Anstieg der Nutzerzahlen beobachten, während Corona hat sich dieser Trend stabil gehalten”, sagt Anne Feuerhack, Pressesprecherin des Netzwerks Entwicklerheld. Die Nutzerzahlen der Plattform Codingschule haben sich in diesem Zeitraum nach eigenen Angaben sogar verdreifacht.

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Trotz geschlossener Geschäfte scheint auch das Interesse an Instrumenten zugenommen zu haben: Laut Branchenverband Somm (Society Of Music Merchants) stieg die Nachfrage nach E-Gitarren von Januar bis November 2020 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um knapp 30 Prozent, bei den akustischen Gitarren um 20 Prozent. Das bestätigt auch Dominic Wagner, Marketingchef von Musikhändler-Gigant Thomann: „Wir verkaufen seit dem ersten Lockdown deutlich mehr Keyboards und Gitarren – teils bis zu 20 Prozent.“ Es sei allerdings schwierig, die Anfragen zu befriedigen, weil die internationale Logistik stark unter dem Lockdown leide.

Lust auf Musik trotz Videolernens

Ob die gekauften Instrumente nun Erst-oder Zweitanschaffungen sind, ist nicht verifizierbar. Allerdings zeigt die gestiegene Nachfrage, dass viele Menschen Lust haben, selbst Musik zu machen – und das trifft im Zweifel ja auch auf die Zweitgitarre zu.

Wer nicht mit Youtube-Videos lernt, sondern in der Musikschule, übt seit vergangenem Jahr im Einzelunterricht via Videocall. Latenzzeiten und Tonverzerrungen machen die Musikstunden zu einer strapaziösen Angelegenheit. Auch ist die Musikszene besonders von den Lockdown-Maßnahmen betroffen. Welche Perspektive die Branche hat, ist bis heute unklar.

Motivation der Musikschüler steigt

Trotzdem haben Musikschüler die Lust nicht verloren: Der Verband deutscher Musikschulen berichtet von bisher weitgehend stabilen Schülerzahlen. Und es gibt einen qualitativen Unterschied zum analogen Lernen: „Die Motivation ist teilweise nochmal gestiegen. Viele üben mehr”, sagt Pressesprecherin Claudia Wanner.

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Das Interesse habe sich allerdings innerhalb der Altersgruppen verändert: „Bei den etwas Jüngeren und den Älteren ist die Nachfrage gestiegen. Bei den 25- bis 45-Jährigen ist sie gesunken”, sagt Christian Höppner, Generalsekretär des Deutschen Musikrats. Einen Grund für das sinkende Interesse der Mittelalten sieht Höppner in der Belastung durch Arbeit und Familie: „Da geht viel Energie verloren.”

Bedürfnis nach Selbstwirksamkeit

Aber warum sind viele trotz Corona-Sorgen überhaupt so motiviert? „Motiviert sein heißt erst mal, ein Ziel vor Augen zu haben“, sagt Psychologie-Professorin Veronika Brandstätter von der Uni Zürich. „Ziellosigkeit ist ein belastender Zustand für Menschen.“

Der erzwungene Stillstand durch den Lockdown steigere das Bedürfnis, sich als kompetent und aktiv zu erleben. „Wer sich etwa dazu entscheidet, ein neues Instrument zu lernen, erlebt sich wieder als selbstwirksam. Das schafft Zufriedenheit“, sagt Brandstätter. „Man kann die Welt wieder gestalten, man kann sein Leben gestalten.“

Die Psychologie-Professorin Veronika Brandstätter lehrt an der Uni Zürich.

Die Psychologie-Professorin Veronika Brandstätter lehrt an der Uni Zürich.

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Mehr Zeit, mehr Gelegenheit

Außerdem sei die Zeit ein entscheidender Faktor: „Die Pandemie hat unseren Tagesablauf radikal verändert. Wir haben deutlich mehr Zeit – und somit Gelegenheit, die persönliche Wunschliste anzugehen”, sagt sie. Wer also schon immer mal eine Sprache lernen wollte, ergreift jetzt eher die Gelegenheit.

Das Alter spiele dabei aus psychologischer Sicht keine Rolle: „Menschen streben in allen Lebensphasen und Kulturen danach, sich aktiv und freudvoll mit ihrer Umwelt auseinanderzusetzen”, sagt Brandstätter. Wie leicht das Lernen falle, sei von der körperlichen und geistigen Verfassung abhängig. „Vokabeln zu lernen fällt einem Zehnjährigen natürlich leichter als einem 45-Jährigen.”

Psychische Belastung

Viele Menschen scheinen also die Corona-Zeit auch für ihre persönliche Weiterentwicklung zu nutzen. Wie passt das mit dem Anstieg psychischer Krankheiten zusammen? „Jeder bewältigt belastende Lebenssituationen unterschiedlich”, sagt Brandstätter. „Menschen, die eine starke Freude daran haben ihre Grenzen zu verschieben, suchen sich geschickt neue Betätigungsfelder.” Bei anderen übersteige die enorme psychische Belastung aber die individuellen Bewältigungsmöglichkeiten.

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Nicht nur eine Frage der Persönlichkeit

Ob die Pandemie uns eher motiviert oder verzweifeln lässt, ist aber nicht nur eine Frage der Persönlichkeitsstruktur. Es ist auch eine Frage der persönlichen Belastung. Denn die Bedingungen, unter der jeder Einzelne die Pandemie erlebt, unterscheiden sich je nach soziodemografischen Merkmalen.

„Wir sitzen nicht im selben Boot. Die Risiken sind dramatisch ungleich verteilt”, sagt auch Oliver Nachtwey, Professor für Sozialstrukturanalyse an der Universität Basel, im Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“. Und Corona verschärft die soziale Ungleichheit noch, warnt die Hilfsorganisation Oxfam.

Homeoffice etwa ist ein Privileg der oberen Bildungsgruppe, stellten Wissenschaftler im Datenreport 2021 fest. Und wer nicht von zu Hause arbeiten kann, ist gefährdeter zu erkranken. Wer in einer kleinen Wohnung lebt, muss dem Platzmangel öfter entfliehen als Penthousebewohner mit Garten. Auch das höchste Risiko, seinen Arbeitsplatz zu verlieren, haben laut der Studie vor allem die unteren Einkommensschichten.

Belastungen sind unterschiedlich verteilt

Je weniger existenzielle Bedürfnisse, wie etwa der Wunsch nach Sicherheit und Gesundheit, befriedigt werden, desto weniger sind wir in der Lage, uns selbst zu verwirklichen. Wer also drei Kinder in einer Zweizimmerwohnung managt, wird selten auf die Idee kommen, endlich mal Spanisch zu lernen. Wer als Pflegekraft dauernd zu viel arbeitet, lernt im Feierabend nicht unbedingt zu coden.

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Dass sich, gerade trotz belastender Umstände, Menschen persönlich weiterentwickeln möchten, ist natürlich eine gute Nachricht. Ausschlaggebend für ihre Motivation ist allerdings auch, wie stark sie die Bedingungen der Pandemie belasten – und die sind je nach sozialer Situation eben sehr unterschiedlich.

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